8. Sinfoniekonzert

Herbert Blomstedt im Interview mit Julia Spinola


Herbert Blomstedt war zehn Jahre lang Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, im Mai 2016 wurde er vom Orchester zum Ehrendirigenten ernannt. Regelmäßig leitet er Sinfoniekonzerte in der Semperoper; ab dem 23. März ist er erneut am Pult der Staatskapelle zu erleben.   

Vor 56 Jahren haben Sie das erste Mal die Staatskapelle Dresden dirigiert. Wie kam das?

Ich bin eingesprungen, weil das Orchester ein Jahr zuvor seinen Chefdirigenten Martin Turnovský durch die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ verloren hatte. In Prag rollten damals nicht nur sowjetische Panzer ein, sondern auch die DDR war beteiligt. Turnovský war Tscheche und legte daraufhin sofort sein Amt nieder. Ich war einer der Dirigenten, die in Dresden einsprangen. Herbert Kegel war ein anderer. Mit ihm hatte die Kapelle 1968 eine Tournee nach Schweden unternommen, die Turnovský nicht mehr dirigiert hat. Auf dieser Tournee hat das Orchester von mir erfahren und so wurde ich gebeten, ein Konzert im April 1969 zu übernehmen. Ich zögerte erst, weil ich noch nie hinter dem Eisernen Vorhang gewesen war. Aber andererseits schwärmte ich doch so für die Kapelle, seitdem ich sie als Teenager zum ersten Mal gehört hatte. Das war bei meinen Großeltern in Värmland. Ich hörte damals aus dem kleinen Telefunken-Rundfunkapparat aus Bakelit, den sie besaßen, die Mozart Variationen von Max Reger, gespielt von der Staatskapelle unter der Leitung von Karl Böhm. Das war so unfassbar schön, dass die Kapelle für mich seitdem im Himmel schwebte. Dieses wunderbare Orchester selber zu dirigieren, aber in diesem fremdartigen Land der geistigen und politischen Unterdrückung, das mir unheimlich war, war ein großer Widerspruch. Der Kommunismus war meine Sache nicht.

 

Sie reisten mit dem Zug von Stockholm nach Dresden. Wie waren Ihre Eindrücke auf dieser ersten Reise in die DDR?

Mitten in der Nacht kamen die Zollbeamten mit Hunden zu mir ins Schlafabteil. Sie waren nicht unfreundlich, aber es war sehr unheimlich. So etwas war ich aus Schweden nicht gewohnt. In Ost-Berlin musste ich früh morgens den Zug wechseln. Es war noch dunkel und der große Bahnhof war ganz leer. Plötzlich entdeckte ich hoch oben auf einer Rampe doch einen Menschen – es war ein Soldat mit einem Gewehr. All das hat mich sehr beunruhigt. Es war kalt und es roch im Zug auch so fremd, weil in der DDR andere Reinigungsmittel benutzt wurden, als bei uns. Der Bahnhof in Dresden schien mir völlig verkommen, alles war kaputt, die Gleise überwuchert von Gras, alles geschwärzt von Ruß. Aber mitten in diesem düsteren Szenario tauchte dann ein sehr freundlicher Mann auf. Es war der Orchesterdirektor Dieter Uhrig, der mich persönlich abholte und zu diesem wunderbaren Orchester brachte. Der Kontrast zwischen der deprimierenden Umgebung und der Kapelle und ihrem Spiel hätte nicht größer sein können.

 

Wie verliefen die Proben und das erste Konzert?

Wir spielten von Paul Hindemith das Konzert für Holzbläser, Harfe und Orchester sowie das Violinkonzert von Johannes Brahms mit Ricardo Odnoposoff. Den zweiten Teil des Abends konnte ich selber gestalten und wählte die 5. Symphonie von Carl Nielsen. Die ist hundeschwer, auch rein spieltechnisch, für die Streicher, und wir hatten insgesamt nur drei Proben. Zu meinem größten Erstaunen war es aber schon nach einer Probe fast perfekt. Ich war wie vom Donner gerührt, dass so etwas möglich ist. Nach diesem Konzert hat die Kapelle mich sofort wieder eingeladen, und schon im nächsten Jahr, 1970, haben sie mich gebeten, ihr Chef zu werden. 

 

Warum haben Sie die Position dann erst 1975 angetreten?

Ich habe jahrelang mit einer Zusage gezögert, weil ich nicht in dieses Land kommen wollte, dessen Politik mir so verhasst war. Aber die Musiker haben mich sehr klug und geschickt umworben. Das haben sie nicht nur durch Überredungskünste getan, sondern vor allem auch, indem sie mir zeigten, was ich verpassen würde, wenn ich nicht käme. Sie fuhren zum Beispiel mit mir nach Freiberg, wo es eine prächtige Silbermann-Orgel gibt. Die Botschaft war klar. Sie lautete: Wie können Sie auch nur zögern, in unser wunderbares Dresden zu kommen? 

Nach einem Gastdirigat kam hinter der Bühne der Solopauker Peter Sondermann auf mich zu und beschwor mich: „Herr Professor, Sie müssen kommen. Wir beten jeden Tag dafür.“ Ich habe damals auch Igor Markevitch um Rat gefragt, der einige Male als Gastdirigent in Dresden gewesen war. Auch er sagte: „Das musst du unbedingt akzeptieren, das wird Dein Leben verändern.“ Ich zögerte immer noch. Ich fürchtete, in einer Diktatur unglücklich zu sein. Andererseits fühlte ich mich ja ungeheuer wohl mit dem Publikum und mit diesem Orchester, das mir wie eine Insel der Seligen erschien. Nach zweieinhalb Jahren konnte ich schließlich nicht mehr widerstehen.

 

Was hat den Ausschlag gegeben?

Dem Orchester glückte damals ein Coup. Herbert von Karajan war in Dresden gewesen, um Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ aufzunehmen. Die Semperoper war dort noch nicht wiederaufgebaut worden. Wir spielten im Schauspielhaus, das aber zu klein war, um große Wagner-Opern zu spielen. Auch ich habe die Kapelle ja damals schon regelmäßig dirigiert. Das Opernrepertoire musste warmgehalten werden, damit es nicht verloren geht. Daher kam die Idee, die großen Opern für die Schallplatte aufzunehmen. Karajan machte Wagners „Meistersinger“. Es gab 18 Aufnahmetermine für die „Meistersinger“, aber nach neun Terminen war bereits alles fertig. Beim neunten Termin fehlte 15 Minuten vor Schluss nur noch die Ouvertüre. Karajan dankte also dem Orchester und verabschiedete sich bis zum nächsten Tag. Die Musiker aber fragten: „Wir haben doch noch 15 Minuten Zeit. Warum nehmen wir nicht noch die Ouvertüre auf?“ Karajan willigte ein, es zu versuchen, gab rotes Licht für die Aufnahme, sie spielten die Ouvertüre einmal durch – und genau so ist das auf der Platte gelandet. Ohne eine einzige Änderung. Karajan hielt daraufhin eine kurze Ansprache an das Orchester. Er sagte sinngemäß: „Als ich nach Dresden kam, merkte ich vom ersten Moment an, dass hier etwas ganz anders ist. In Dresden gibt es so viele Ruinen und tote Monumente. Sie aber, meine Herren, sind ein lebendiges Monument. Bleiben Sie so. Wenn ich nicht in Berlin gebunden wäre, würde ich zu Ihnen kommen.“ Karajans Worte wurden aufgenommen und das Orchester schenkte mir die Aufnahme zu Weihnachten 1972. Ohne weiteren Kommentar. 

 

Danach mussten Sie natürlich zusagen.

Ja, das war der letzte Tropfen. Ich sagte zu, und ich habe das nie bedauert. Diese Geschichte verrät viel über die Mentalität der Kapelle. Die Kapelle ist im besten Sinne stur. Wenn diese Musiker etwas wollen, dann lassen sie nicht locker, bis sie es bekommen. Trotzdem dauerte es noch weitere zweieinhalb Jahre, bis ich den Vertrag unterzeichnete, denn auch der Staat musste noch überzeugt werden. Die Kapelle war in Ost-Berlin nicht sehr beliebt. Sie war nur insofern beliebt, als sie Devisen brachte durch ihre Auslandskonzerte. Von den erspielten Gagen erhielt die Kapelle selbst nur einen Bruchteil. Das meiste Geld floss in die Staatskasse. Abgesehen davon, dass sie Geld einbrachte, war die Kapelle dem DDR-Regime aber viel zu selbstbewusst und zu eigenwillig. So war es auch in diesem Falle wieder. Das Orchester bestand hartnäckig darauf, diesen jungen Mann aus dem kapitalistischen Ausland als Chefdirigenten zu bekommen, wo es doch nach offizieller Staatsmeinung die besten Dirigenten im eigenen Land gab. Aber das Orchester stellte sich stur. Dazu gehörte damals viel Mut. Der Eigensinn der Kapelle konnte manchmal auch unbequem sein, aber er hatte immer einen künstlerischen Hintergrund. Wenn man etwas Ungewöhnliches will von der Kapelle, dann kann es passieren, dass die Musiker zwar freundlich sind, aber die Sache boykottierten, indem sie einfach nicht mitmachen, sich nicht bewegen. Aber die Spielmoral der Kapelle war zu meiner Zeit einzigartig. Ich hatte so etwas vorher noch nie erlebt und auch danach nicht mehr in dem gleichen Sinne. Das Orchester war geballte Energie, wie ein Kernkraftwerk. Dresden bewegt mich bis heute. Immer wenn ich zurückkomme, ist es etwas ganz Besonderes.

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